Der Zivildienst überfordert Tim (19 Jahre)

Was soll ich sagen? Tim hält seine Versprechen nicht ... kann sie gar nicht halten. Meine
Erziehungswege werden immer unebener. Ich schleppe Tim stolpernd und japsend hinter mir her. Schließlich landen wir auf einem Geröllfeld. Je unaufhaltsamer der Tag kommt, an dem er sein Leben eigenständig etwas auf die Reihe wird bekommen müssen, umso deutlicher wird seine Unfähigkeit, mit den einfachsten Anforderungen zurechtzukommen. Es wird anstrengend. Es wird zu anstrengend. Wir rutschen aus und schlagen hin.

Zum Jahresanfang 1999 beginnt Tim endlich seinen Zivildienst. Im Rucksack hat er etliche
unliebsame Weggefährten, die ihm unaufhörlich das Leben schwer machen: Seine
Konzentrationsprobleme, sein fehlendes Aufgabenverständnis, sein ignorantes Kurzzeitgedächtnis, sein mangelhaftes Begreifen von Zusammenhängen, seinen stetigen Hang zum Rückzug, die große Verantwortungslosigkeit und deren Zwilling, die entgleisende Selbstregulation, die ihm schnell den Stinkefinger zeigt, wenn es um die Regeln geht, die man im Miteinander einhalten sollte – und die ihm ins Ohr flüstert, ein Ziel zu erreichen sei unsinnig.

Ich aber bin erleichtert, dass endlich etwas passiert und guten Mutes, denn ich bin überzeugt: Dort würde er Kontakte schließen, sich integrieren, etwas für das Leben lernen. Wenn meine Erziehungsmethoden ihn nicht erreichen, würde er dort sicherlich wach werden. Zu diesem Zeitpunkt glaube ich noch allen Ernstes, diese Tätigkeit werde ihm nicht nur liegen, sondern auch sein Selbstbewusstsein stärken. Damit liege ich komplett daneben, denn Tim wendet seine und die von vielen Menschen mit FASD erfolgreich erprobte Strategie an: Er erweckt den Eindruck, dass er begriffen habe, und erklärt sein Einverständnis mit seinem typischen „Ja, ja“. Das bedeutet aber nur, dass er seine Ruhe haben will. So drückte er es vor Kurzem aus.

„Ich mache das schon“, sage ich immer. Dieser Spruch begleitet mich schon lange. Und seitdem ich die Diagnose habe, habe ich erst verstanden, warum man als Mensch mit FASD das sagt. Das ist zum Beispiel so: Ich möchte Dinge eigentlich gerne selbstständig und alleine machen. Ich habe aber früher nie richtig einschätzen können, dass das eigentlich ohne Hilfe nicht geht. Ich wollte es ja wirklich alleine machen, aber ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Ich konnte zwar unterscheiden, was wichtig und was unwichtig war, aber ich war bei einigen Sachen überfordert. Wenn es zu schwierig wurde, habe ich Mahnungen irgendwo in der Schublade versteckt und gesammelt, aber weggeworfen habe ich nichts.

Als ich an einem scheußlichen Regentag Anfang Februar etwas früher von der Arbeit nach Hause komme, sehe ich von draußen Licht in der Küche. Ich betrete die Wohnung, wo mich angenehm leise Musik empfängt. Ich stelle meine Tasche ab, spähe in die Küche und traue meinen Augen nicht: Tim spült. „Aha, es geschehen noch Zeichen und Wunder“, denke ich freudig überrascht. „Nanu“, frage ich „Was machst du denn schon hier?“, umarme ihn, lehne mich schmunzelnd in den Türrahmen und betrachte ihn mit wohlwollendem Lächeln. „Ich konnte früher Feierabend machen“, ist seine etwas zu schnelle Antwort. In seinem Blick ist etwas scharf Beobachtendes, das ich aber nicht weiter beachte. Langsam wendet er den Blick von mir ab, konzentriert sich auf die kleinen Seifenlaugenblasen im Spülwasser und reibt unaufhörlich an einem einzigen Teller herum, der längst sauber ist. 

Ungewöhnlich, sonst ist er nicht so gründlich. Gut gelaunt nehme ich ein Geschirrtuch zur Hand und beginne abzutrocknen. „Hast du Hunger?“, frage ich. Er nickt. Nach getaner Arbeit und ein paar belanglosen Sätzen verschwindet er, wie gewohnt, in sein Zimmer. Ich bereite das Essen vor. Ich kann heute kaum glauben, wie naiv ich damals war, obwohl er mich schon oft belogen und auch bestohlen hatte. Offensichtlich wollte ich um jeden Preis eine heile Welt. Wie sehr man sich doch selbst betrügen kann. 

Mein Sohn kommt nachmittags immer etwa eine halbe Stunde nach mir nach Hause. Aber ab diesem Zeitpunkt ist Tim häufiger vor mir zu Hause. Das wundert mich. „Ist im Moment nicht viel zu tun“, ist stets sein Kommentar. In der folgenden Zeit macht Tim sich daran, mich davon zu überzeugen, dass es ihm im Salvador-Allende-Haus, in dem er seinen Zivildienst absolviert, gut gefällt. Meine vielen Fragen beantwortet er bereitwillig. „Super. Es ist alles in Ordnung.“ Er ist gut gelaunt. Wir sitzen abends im Wohnzimmer. Er legt mir charmant einen Arm um die Schultern und sieht mich an: „Mama, mache dir keine Sorgen. Ich kriege das hin.“ Er malt eigens für mich ein buntes Bild, auf das ich gerne schaue, und sage: „Seht mal alle her, das hat mein Sohn gemalt. Ist er nicht talentiert?“ Auf diesem Bild kann man einen zufriedenen, lebenstüchtigen jungen Mann erkennen, der sein Leben meistert und die Startschwierigkeiten hinter sich gelassen hat.

„Der Zivildienst tut ihm gut“, resümiere ich. Ich durchschaue seine erstklassige Taktik nicht, die er sich zur Beruhigung für seine gestresste Mutter zurechtgelegt hat. So erreicht er auch, dass ich nicht weiter in ihn dringe. „Gut, nun muss er nur noch überlegen, was er werden will“, denke ich daher. „Aber das wird schon.“ Zum ersten Mal schlage ich den Weg des gelassenen Abwartens ein – überzeugt, dass die konfliktreiche Zeit vorbei ist. Ich werde ihn weder motivieren noch weiter mitschleppen müssen. Es ist also doch die überbordende Pubertät gewesen. Alles würde seinen Gang gehen. Ich freue mich. Wie es aussieht, war es meine mütterliche Unfähigkeit zu akzeptieren, dass aus einem schützenswerten, nach frischer Milch duftenden Baby, einem niedlichen, zartgliedrigen Engelchen mit blonden Locken vorübergehend ein pubertierendes, Zigaretten rauchendes, vergnügungssüchtiges Ungeheuer geworden war. Ich lehne mich seit langer Zeit zum ersten Mal wieder vorsichtig zurück.


Ich habe keinen blassen Schimmer davon, dass er dieser Tage verstohlen einen Brief abfängt, den seine Zivildienststelle ihm zugeschickt hat und in dem er erneut um ein Dienstgespräch gebeten wird.